Die Einhörner des Winters

Ein kleiner Junge, er hieß Thomas und war etwa 13 Jahre alt, wohnte mit seiner Großmutter etwas außerhalb eines Dorfes. Seine Eltern waren bei einem Lawinen-Unglück verstorben, und so wurde er vom Pfarrer zu seiner Großmutter gebracht. Die alte Frau war schon ganz grau und gebeugt vom Alter, doch auf ihren Lippen lag immer ein freundliches Lächeln, und nur selten sprach sie ein böses Wort.
Thomas mochte seine Großmutter, denn sie konnte so schöne Geschichten erzählen. Da half er ihr auch gern im Haus, wenn er dafür abends in seinem Bett liegen und den wunderbaren Geschichten lauschen konnte. Eine mochte er besonders gerne: Die Geschichte von den Einhörnern des Winters. Seine Großmutter erzählte sie jedes Jahr, wenn der erste Schnee fiel. Sie erzählte, wie die Einhörner, wundersame Wesen der endlosen Weiten der Tundra, mit dem ersten Schnee aus dem Wind und dem kalten Weiß entstanden. Thomas glaubte nicht so recht an die Einhörner, er hielt die Sage für eine Geschichte, die im Kopf eines halberfrorenen Mannes entstanden war, als er einen kleinen Schneewirbel gesehen hatte. Doch er sagte nichts, denn er mochte seine Oma und ihre liebevoll erzählten Geschichten.
Eines Tages, als es draußen kalt und stürmisch war, klopfte es an der Tür. Es war spät am Nachmittag, und die alte Frau fragte sich, wer denn zu so später Zeit noch herkommen könnte, denn auf dem Rückweg würde es schon dunkel sein. Sie öffnete, und vor ihr stand ein halb erfrorener müder Wanderer. Sie bat ihn herein und schickte Thomas einen Kessel mit Wasser heiß machen.
Der Wanderer war so steif, dass er seinen Mantel nicht von allein ausziehen konnte, aber mit Hilfe des Jungen war es möglich. Die Großmutter braute derweil einen heißen Pfefferminztee und schenkte dem armen Mann eine Tasse ein. Dieser trank dankbar, und dann hub er an zu erzählen.
"Ich bin Händler aus den südlichen Landen und war hierher mit meinem Schlitten unterwegs, um einige Waren zu verkaufen. Doch eines unserer Pferde strauchelte und brach sich das Bein. Ich musste es erschießen. Doch unser Schlitten ist zu schwer für nur ein Pferd, und so ging ich los, um Hilfe zu holen. Mein Sohn wartet noch dort draußen und bewacht die Waren, ich ließ ihm das Pferd dort, damit er nicht erfrieren würde."
Die Großmutter schüttelte den Kopf. Immer wieder der Leichtsinn der südlichen Händler. Warum nur nahmen sie keinen Führer, der sie sicher durch die schneebedeckte Tundra führen konnte?
"Wir haben noch ein Pferd, aber wir brauchen es selbst. Doch Thomas könnte mitkommen und Ihren Schlitten hierherbringen, dann können Sie hier übernachten."
Thomas sah sie mit großen Augen an. Noch nie hatte er so ein Abenteuer erlebt, und für ihn war es eines. Er kannte sich in der Tundra aus, und seine Großmutter wusste das. Er war so froh, dass sie es ihm erlaubte, dem fremden Mann zu helfen.
"Ich danke Ihnen."
Die Großmutter winkte ab. Für sie war es selbstverständlich zu helfen - konnte sie doch den armen Mann nicht draußen erfrieren lassen, noch dazu, wo jetzt die Zeit der Wölfe anbrach, die jetzt immer hungriger wurden und auch schon einmal Menschen anfielen. "Beeil Dich nur, es wird schnell dunkel", sagte sie Thomas noch, dann schloss sie die Tür hinter ihm und bereitete warmes Wasser vor.

Thomas ging durch den tiefen Schnee zum angrenzenden Stall, wo er der große Stute die Zügel anlegte. Mit nicht wenig Stolz sah er den Blick des Händlers, als der das gut genährte und gepflegte Tier sah. Die Stute war schwarz wie die Nacht, ein Friese mit langer Mähne und wehendem Schweif, und ihr Winterfell war sehr dick. Hier in der Tundra waren Pferde eine Seltenheit, und Thomas war nicht zu Unrecht stolz auf dieses Tier.
So stapfte er also hinter dem Händler her und ließ sich von ihm Geschichten aus dem Süden erzählen, denn er war neugierig und wollte alles hören, was er nur erfahren konnte. Der Weg bis zu dem verunglückten Schlitten war lang, doch wenigstens schneite es nicht und war noch ein wenig hell, so dass sie den Spuren des Händlers zurückfolgen konnten. Als sie den Schlitten erreichten, war es schon fast dunkel geworden, und Thomas spürte, wie die Kälte mit eisigem Griff alles umhüllte. Rasch schirrte er die Stute an, die den nebenstehenden Hengst neugierig beschnupperte.
Der Sohn des Händlers war ein wenig älter als er, schon 16. Aber er war genauso neugierig auf Thomas wie dieser auf ihn, und so erzählten sie sich gegenseitig Geschichten, während sie nach Hause fuhren. Nicht lange, und es kam ein heftiger Wind auf. Thomas schnürrte seine Kapuze fester.
"Packen Sie sich gut ein, es fängt gleich an zu schneien!" Die Warnung kam gerade rechtzeitig, denn ganz plötzlich wurden die Sterne am Himmel durch eine wehende Wolke von wirbelnden Weiß ausgelöscht. Sie konnten kaum noch etwas sehen, und die Pferde zu lenken war unmöglich geworden. Thomas hoffte, dass die Stute den Weg nach Hause und in den Stall finden würde, doch der Schnee fiel immer dichter und der Wind wurde immer heftiger. Immer langsamer wurden die Pferde, denn in dem tiefen Schnee war das Fortkommen noch beschwerlicher.
"Werden wir es noch schaffen?" schrie der Händler.
"Ich weiß es nicht", schrie Thmomas zurück, denn jedes normale Gespräch wurde von dem wütenden Wind unterbrochen. Jetzt führte er noch das Geheul von Wölfen mit sich, und die Pferde wurden merklich unruhig.
Thomas schnalzte ihnen gut zu, doch es würde ein Glücksspiel werden, noch rechtzeitig nach Hause zu kommen.
Da bemerkte er eine Bewegung aus dem Augenwinkel, und als er genauer hinsah, meinte er, ein Einhorn zu sehen, nur kurz, dann war es wieder hinter dem wirbelnden Schnee verborgen.
Doch auch der Sohn des Händlers, Selim, hatte das Einhorn gesehen, wie Thomas an seinem verstörten Blick erkannte. Das Wolfsgeheul wurde lauter, der Schnee fiel immer dichter, und der Wind riss ihnen jedes Wort von den Lippen. Immer wieder musste Thomas sich den Schnee aus den Augen wischen, und als schließlich die Pferde stehen blieben, kletterte er aus dem Schlitten - doch er versank bis zur Hüfte im Schnee. Der Händler zog ihn wieder raus und schnallte ihm Schneeschuhe an die Füße, das war schon besser - und vor allem konnte man damit laufen. Thomas hätte es sich ja denken können, dass der Schnee so tief werden würde. Mit der linken nahm er die kleine Laterne, die kaum Licht spendete, aber für Thomas war es der einzge Trost. Er ging zu den Pferden nach vorn, wobei er fast weggeweht wurde, und strich ihnen den Schnee von den Köpfen.
"Na kommt, es ist nicht mehr weit bis nach Hause. Das schaffen wir", redete er ihnen gut zu, wenngleich er selbst auch ncihts verstehen konnte, denn der Wind war unerbittlich. Mit der Rechten ergriff er die Zügel und wandte sich in die Richtung, in der er das Haus vermutete, und die Pferde folgten ihm schließlich.
Der Schnee treib ihm die Tränen in die Augen, und schon nach kurzer Zeit wurde jeder Schritt zur Qual. Seine Beine wurden rasch schwerer und schwerer, und die Pferde schienen überhaupt nicht folgen zu wollen. Zudem näherte sich ihnen das Wolfsgeheul, und Thomas befürchtete schon, jeden Moment von einem dieser bissigen Schatten angesprungen zu werden.
Als er schon dachte, er müsste der Länge nach in den Schnee fallen, sah er wieder das Einhorn, wie es durch den Schnee preschte, fast direkt vor ihm. Ein Wirbel aus Schnee, Wind, und Dunkelheit, und doch von so klarer Gestalt, dass es nur ein Schnee-Einhorn sein konnte, von dem ihm seine Großmutter erzählt hatte. Er glaubte seinen Augen nicht zu trauen, meinte, dass ihm seine Sinne einen Streich spielen würden. Doch es war immer noch da, auch, als er verdutzt stehen blieb. Langsam kam es näher, und dann bemerkte Thomas die Ruhe um es herum. Der Sturm schien langsamer zu werden, wenn er auf das Einhorn traf, und der Schnee wirbelte nicht ganz so schnell.
Wie eine unsichtbare Gestalt stand es dort, sah ihn mit klugen schwarzen Augen an, die so endlos wie die Nacht zu sein schienen, und um es herum wirbelte der Schnee und machte es für die menschlichen Augen sichtbar. Thomas war entgeistert. Dieses Wesen war wunderschön. Die Pferde hinter ihm konnten es auch sehen, und sie warfen unruhig die Köpfe hin und her.
Die Zeit schien stillzustehen, diesen kurzen Augenblick lang, in dem sich die beiden unterschiedlichen Wesen in die Augen sahen, dann wurde er jäh unterbrochen, als ein grauer Schatten aus dem Schnee heraus auf sie zusprang. Thomas schrak zurück, die Pferde stiegen, dass er Mühe hatte, sie festzuhalten, und das Einhorn wandte den Kopf und war verschwunden.
Thomas fluchte und versuchte, die Pferde zu beruhigen, während er den Wolf beobachtete. Der sah ihn mit gelben Augen böse an, wohl wissend, dass er nur ein kleiner, halb erfrorener Bissen sein würde. Der Junge zitterte. Erstens vor Kälte und zweitens wegen diesem unheimlich bösen Blick, als ob der Wolf eine Intelligenz besaß, die über das hinaus ging, was die Menschen ihnen zuschrieben.
Dann wurde er zur Seite geschleudert. Ein wenig verwirrt schaute Thomas auf, und er erblickte das Einhorn wieder, welches den Wolf mit einem gut gezielten Stoß seines Horns getroffen hatte. Und es hatte seine Freunde dabei. Eine ganze Herde von diesen wundersamen Wesen kam herbei gelaufen, lief um den Schlitten herum und verjagte die Wölfe. Derlei von Einhörnern umgeben, war der Sturm merklich schwächer geworden, und auch die Wölfe trauten sich nicht mehr heran. Mit neuem Mut ging Thomas wieder los, und die Pferde folgten ihm willig. Die Einhörner begleiteten sie bis kurz vor die Hütte, dann stoben sie auseinander und verteilten sich in alle Himmelsrichtungen.
Der Sturm stieß auf den Schlitten hinab wie ein jagender Falke, doch so sehr er auch biss und rüttelte, er konnte die drei Menschen nciht kleinkriegen, die ihr Ziel schon vor Augen hatte. Sie kamen glücklich und heil im Stall an, schirrten die Pferde ab und schleppten sich müde und erfroren ins Haus, wo sie von der Großmutter mit heißem Tee und angewärmten Decken begrüßt wurden.
"Ich dachte schon, ihr würdet es nicht mehr schaffen."
Thomas sah sie an und nickt leise. "Wir hätten es nicht geschafft, Oma. Die Schnee-Einhörner haben uns gerettet."
Die alte Frau lächelte leise, strich ihm über den Kopf und schwieg.
Manche Dinge sollten eben besser ein Geheimnis bleiben.

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