Das Lied des Einhorns

Die Dämmerung senkte sich herab. Ein orangeroter bis malvenfarbener Streifen am Horizont war das letzte Zeichen des sterbenden Tages. Sie saß auf einem Felsen im Fluss und ihre Füße baumelten im eisigen, klaren Wasser. Perlmuttartig schimmerte ihre zarte Haut. Ihre grünen Augen verloren sich im Spiel der Strömung und das Gurgeln und Raunen des Flusses erzählten ihr von der Vergangenheit. Die trauernden Weiden am Uferrand, deren Zweige wie schlanke Finger durch das Wasser des Shannon strichen, spendeten ihr Trost. Die Halme der Schilfpflanzen verneigen sich ehrerbietig vor ihr, die das Abbild von sehnsuchtsvoller und trauergeschwängerter Schönheit war, ohne das der Hauch des Windes sie der braunen Erde entgegen bog. Das Wasser kräuselte sich und wirbelte in kleinen Strudeln herum, als würden Einhörner unter der Wasseroberfläche tanzen. Einen Reigen durchdrungen von der Sehnsucht wieder das fahlblasse Mondlicht auf dem weißen Fell silbrig schimmern zu sehen und die salzigen Winde Erinns zu atmen. Mit der gleichen Sehnsucht im Herzen brennend gehörte diesen Zauberwesen, schneeweiß wie ein Nebelstreif im Mondlicht und grazil wie die tanzenden Fairies von Erinn, ihr Lied, das schwermütig über das Wasser hallte. Der Nachtwind, der sie den Hauch des Todes auf ihren carneolfarbenen Lippen schmecken ließ, spielte mit ihrem granatroten Haar. Wie almandinfarbene Flammen riss der Wind an den langen, lockigen Strähnen, wie er ihr auch die Worte von ihrem Mund riss, der sehnsuchtsvoll geöffnet war:

"Ich habe immer nur gelacht,
niemals geweint.
Ich kannte nicht das Leid, die Schlacht,
war von Sorgen stets befreit.
Ich kannte nur den Tanz
im hellen Lichterglanz
Doch diese Zeit ist nun vorbei,
komme niemals wieder frei.
Dies ist nur ein Traum,
wie oft davon geträumt
Klippen umspült von Meeresschaum,
Wellen von Rosen gesäumt.

Ruhig wie das Meer.
Augen so tief und doch so leer
blicken in den Sonnenuntergang.
Ihr rötliches Haar war Windfang.

Weiße Hand, die durchs Wasser zieht.
Tränen gleich Perlen ins Wasser fallen.
Ein Gedanke jeder Realität entflieht.
Dunkle Wolken sich am Himmel ballen.

Einsam sitzt sie auf einem Fels im Meer.
Auf ewig verwehrt ist ihr die Heimkehr.
Ein altes Lied, welch lieblicher Klang.
Leise ihre Stimme in schwerem Gesang.

In dieser Welt hier bin ich ausgestoßen, allein.
Nicht mehr als eine Welle die den Strand hinauf spült,
nicht mehr als totes Gestein,
nicht wie ein Mensch, der lebt und fühlt.

Sie, in einer anderen Welt geboren,
das Licht zu bringen, sie auserkoren.
Doch von niemandem wart sie erkannt.
In dieser Welt einsam - sterblich - aus ihrer verbannt.
Das letzte meiner Art
wird alt werden und sterben.
Keine Erinn'rung an mich wird gewahrt.
Der zerbrochene Meeresspiegel liegt in Scherben.

Die Stimme des Einhorns in Menschengestalt
traurig über die Meere hallt.
Das Lied eines Zauberwesens, das sich im Menschen verlor.
Auch Tränen öffnen nicht das Weltentor.

Grüne Augen verlieren sich im weiten Himmel.
Nur ein Schritt in die tobende Flut.
Meerschaum macht sie zum weißen, gehörnten Schimmel.
Weiß wird aus ihrer roten Haare Glut.

Ihre Tränen werden zu Perlen auf dem Meeresgrund.
Ersterben tut ihr schwerer Gesang aus lieblichen Mund.
Die seltsamen Lieder, die die Wellen singen,
die Einhörner fast bis ans Ufer bringen.

Ein altes Lied, das meine Sinne immer noch beschwert,
die Geschichte eines Einhorns in Menschengestalt.
Jeder hatte ihr den Rücken gekehrt
in einer Welt dunkel und kalt.

Das Einhorn ist der Hoffnung Zeichen
und Wolken werden dem Lichte weichen.
Damit, dass das Einhorn in des Meeres Wellen flieht,
endet traurig dieses Lied."

Ihre Stimme erstarb und doch wurden die letzten Silben noch hoch auf den Schwingen des Windes in den Himmel getragen. Nur langsam verhallte der Ton ihrer schwermütigen Stimme und verlor sich in den Weiten des grünen Landes, das unter dem grauen Trauerschleier der späten Dämmerung schlief. Ein Lächeln huschte über ihre Lippen. Grazil ließ sie sich von ihrem Felsen in die eisigen Fluten des Flusses gleiten.
" Geleitet meinen Körper ans Meer zurück...", bat sie flehentlich die Najaden, die Geister des Wassers. Mit diesen Worten wurde ihr Körper zu einem Spiel der Wellen und die kleinen Luftblasen, die ihre Lippen verließen, stiegen tanzend auf und zerplatzten wie sterbliche Träume auf den Wellenkämmen.
Die Prophezeiung ihres Liedes erfüllte sich. Unter der Wasseroberfläche floss Nebel über ihren geschmeidigen Körper und wandelte die Almandinflammen ihres Haares in die Farbe des mondsteingleichen Nebels selbst. Ein Zauber hüllte ihre traurigen Erinnerungen an diese Welt, in der sie eine Ausgestoßene war, in die gnädigen Schleier des Vergessens. Ihre noch geöffneten grünen Augen verloren den Blick und ihre Haut gefror zu weißem Eis. Die Najaden, wunderschöne Jungfrauen der Gewässer Erinns, deren schlanke Körper mit silberglänzenden Fischschuppen besetzt waren und deren filigrane Gewänder aus den Netzen der Wasserspinne gewoben waren, in denen noch die Luftblasen wie Diamanten schimmerten, ergriffen sie an den schmalen Handgelenken. Lächelnd verflochten sie ihre Finger mit denen Morgans.
" Wir geleiten dich nach Haus und vereinen dich mit deinen verlorenen Gefährten", wisperten die Geister des Wassers. Mit der Strömung ließen sie sich flussabwärts treiben, zum Meer. Seetang streichelte Morgans Waden, aber sie konnte die zärtlichen Berührungen nicht mehr spüren. Längst standen die Sterne hoch am Himmel. Die silberhelle Scheibe des Mondes überfloss das Meer mit dem flüssigen Metall. Endlich verbreiterte sich der Fluss und mündete in die salzigen Weiten des Meeres. Eine Najade nach der anderen löste ihre Hand von Morgans Körper und übergab ihn dem Ozean. Die Wellen verwandelten das Mädchen schimmernd wie Mondstein. Sie nahmen sie mit in die Tiefe und dort waren sie, die Einhörner. Nebelstreifen, die unter Wasser tanzten wie die Fairies auf den Waldlichtungen Erinns. Aus blicklosen Augen flossen die letzten Tränen eines Einhorns, gefangen in der gläsernen Hülle des menschlichen Seins. Doch nicht das kristalline Salz ihrer Tränen schimmerte im weichen Sand, sondern geweinte Perlen. Und im Schein des Mondes und der Sterne, die die Nacht gespenstisch erhellten, vollendete sich Morgans Verwandlung. Ein weißes Zauberwesen gesellte sich zu seinen Gefährten und reihte sich ein in ihren Reigen der Wellen.
Schäumend rollten die Wellen an den weißen Strand. Sie brachten die Einhörner fast bis ans Ufer, doch aus Furcht vor dieser grausamen Welt, wagten sie es nicht auch nur einen Huf dem Tageslicht zu zeigen. Auch nicht Morgan, die Ozeangeborene, die unter der Wasseroberfläche mit den unergründlichen Augen eines Einhorns in die ersten Sonnenstrahlen des neugeborenen Tages blinzelte...

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