Das Einhorn und die Jungfrau

Vor langer Zeit lebte am Rande des Waldes Broceliande ein König namens Boron, der von seinen Leuten gehaßt wurde. Auch die Bewohner der benachbarchten Königreiche waren ihm nicht wohl gesonnen, denn er lag im ständigen Krieg mit ihnen. Er war ein böser Mann, der niemandem vertraute und ständig keinen und immer vermutete. Diese Furcht war keineswegs unbegründet, denn je kriegerischer er wurden, desto mehr wurden er seinem Volk überdrüssig. Boron war aber nicht immer ein schlechter Mensch gewesen, erst Enttäuschung und Leid hatten seine Seele vergiftet. In seiner Jugend war er als Boron der gesegnete bekannt gewesen, doch nun nannte man ihn nur noch Boron der Verbitterte. Der einzige weiche Punkt, der in seinem Inneren zurückgeblieben war, schien es, war für seine Tochter Therese bestimmt. Dieses lag nicht nur an der speziellen Bindung zwischen Vater und Tochter; sie weckte die Liebe in jederman. Sie war eine der Personen, die nur das Gute in den anderen sah und tatsächlich wurden viele Vergehen ihres Vater gerade um ihretwillen verziehen.

Eines Tages geschah es, daß ein Einhorn in dem nahen Wald des Königreichs von Boron gesichtet wurde. Als die Nachricht durch Jäger und Förster zu den Landarbeitern und Bürgern drang, erinnerte sich die Menschen an die Umstände, unter denen ein Einhorn zum letzten Mal erschienen war. Der Zeitpunkt hatte mit dem Tod des Großvaters von Boron übereingestimmt - dem jener bald ähnlich wurde - und man glaubte, dies sei das Zeichen für das Ende der teuflischen Herrschaft. Das Ereignis weckte die Hoffnung der Bevölkerung und ein Lächeln erschien auf Gesichtern, die Freude für viele Jahre nicht gekannt hatten.

Der König hörte als letzter die Nachricht über das Einhorn, aber trotz der Bedeutung seines Erscheinens, konnte er nur daran denken, wie er das kostbare Horn des Tieres in seinen Besitz bringen konnte. Er rief seine klügsten Berater zusammen, um mit ihnen zu planen, wie er an das gewünschte Gut gelangen konnte. "Dies kann man nicht mit Gewalt bewerkstelligen," erklärten sie ihm. "Weder besten Jagdhunde noch die tapfersten Jäger können das Einhorn einfangen. Es ist das klügste und stärkste Tier von allen und sowohl im Wald als auch in den Bergen kann es verschwinden wie Nebel. Es kommt nur in die Reichweite der Menschen, denen es vertraut und diese sind keine anderen als die reinsten Jungfrauen." "Dann findet mir eine solche und wir stellen dem Einhorn mit ihr eine Falle," warf der König ungeduldig ein. "Aber wenn sie von dem Plan weiß, mein Lord," antworteten sie, "könnte das Einhorn dies spüren und fern bleiben." "Also werden wir es ihr nicht erzählen, ihr Dummköpfe," brüllte Boron, "und wenn einem von euch ohne meine Erlaubnis ein Wort über seine Lippen kommt, wird sein Kopf die Krähen am Stadttor füttern."

Boron war kein durchgehend schlechter Mensch; als herausgefunden wurde, daß seine eigene Tochter die gesuchte Jungfrau war, quälten selbst ihn Skrupel. Selbstverständlich hätter er auch irgendeine andere Jungfrau wählen können, aber das schien eine Beleidigung der Ehre seiner Tochter und außerdem hätte es die Chancen auf Erfolg gemindert. So entschloß er sich am Ende, nachdem er seine Bedenken erfolgreich niedergeschlagen hatte, zu handeln und die arme Therese als unwissenden Köder für seine Einhornfalle zu verwenden.

Am nächsten Tag bestiegen Boron und seine Tochter die Pferde, begleitet von einem Dutzend seiner treuesten Ritter. Der König erklärte Therese, er wünsche nur, daß Einhorn aus einiger Entfernung zu betrachten, wenn es beschloß sich ihr zu nähern. "Wir brauchen sicher nicht so viele Begleiter, um ein friedliches Einhorn zu finden," wunderte sich die Prinzessin. "Natürlich nicht, mein Liebling, aber die Welt ist voll von unseren Feinden, also ertrage sie um meinetwillen. Nebenbei, auch sie würden gern einen flüchtigen Blick auf dieses Wunder werfen."

Als sie sich dem Wald näherten, trafen sie auf einen freundlichen Ritter, der ihnen entgegenritt, ein weißes Schild tragend. Der König fragte nach, ob er eine Ahnung von dem Einhorn hätte. "Ich habe das Geschöpf die ganze Nacht vergeblich gesucht," erwiderte der Ritter, "und auch viele andere Nächte und Tage zuvor. Es gibt nichts auf der Welt, das ich lieber finden würde, als das heilige Einhorn." "Du willst ihm kein Leid zufügen, oder?" fragte die Prinzessin. "Ich würde mein Leben gegen jeden riskieren, der dem Tier Schaden zufügen möchte, Lady, und ich habe dies bereits in so vielen Fällen getan." "Dann mußt du mit uns kommen," erklärte sie, " auch wir sind auf friedlicher Suche nach dem Einhorn." Trotz des geheimen Unwillen des Königs nahm der Ritter das Angebot an und beteiligte sich an der Suche durch den Wald. In der Mitte des Waldes wuchs eine mächtige Eiche und von einem steilen Berg konnte man alles überblicken. Die Prinzessin ließ sich hier auf einem Kissen zu den Wurzeln der Eiche nieder und wartete, während der König und seine Ritter sich in den Wald zurückzogen. Dort überwältigten sie den weißen Ritter und fesselten ihn an einen Baum, bevor sie sich daran machten, die Falle zu stellen.

Die Prinzessin Therese wartete den ganzen Tag, ohne einen Blick auf das Geschöpf werfen zu können. Doch als sich die Sonne unterging und der Mond erschien und beide Planeten für eine Weile den Himmel teilten, bemerkte sie eine schwache Bewegung des Einhorns. Es stand im Schatten unter einem nahen Baum, so unfaßbar und unwirklich wie ein Geist. Für eine lange Zeit blickte das Einhorn Therese wachsam an und auch sie blickte hinüber, voller Furcht das Tier durch eine Bewegung zu verschrecken. Doch dann trat es mit der Anmut eines Rehs hervor und trottete in ihre Richtung, seine schneeweiße Mähne wehend, wie Wellen und sein schlankes, gewundenes Horn blitzend im Dunkel des Himmels. Therese, die beim Anblick dieses Wunders kaum atmen konnte, wurde mit Liebe und Bewunderung für dieses Geschöpf erfüllt, als es ihr mit seinem weisen Blick in die Augen schaute.

Sie fühlte sich, als ob sie auf die Ecke eines Abgrunds zutrieb und glaubte Brocken himmlicher Musik aus weiter Entfernung zu hören. Das Einhorn zögerte, bis es über die Reinheit ihres Herzens sicher war, erst dann ließ sich das heilige Tier nieder und bettete seinen Kopf in ihren Schoß. Während sie es liebkoste, war die Prinzessing erfüllt von unmeßbarer Wohligkeit. Tränen des Glücks fielen auf das Einhorn und glitzerten wie Diamanten im Mondlicht.

Plötzlich, mit lautem Brüllen, Donnern von Hufen und Klirren der Waffen, barsten der König und seine Ritter aus den Bäumen hervor. Das Einhorn sprang auf seine Hufe, aber es war bereits zu spät. Das Geschöpf war umzingelt und als es hoffnungsvoll einen Weg durch den Ring aus Stahl suchte, entrann ihm ein mitreißender Schrei der Angst. Schließlich streckten sie es mit einem zerschmetternden Schlag nieder und Boron stieg eilig von seinem Pferd, um das wertvolle Horn endlich in seinen Besitz zu bringen.

Endlich kam Therese zu sich und realizierte, was sich da vor ihren Augen abspielte. Mit einem Schrei lief sie in den Kreis von blitzenden Hufe der Pferde, warf sich selbst zum Schutz über das gefallene Einhorn und verbarg dessen Kopf in ihren weißen Armen. "Töte mich zuerst," schluchzte sie, "denn mit dem Wissen, daß ich ein solch nobles Vertrauen betrogen habe, kann ich nicht weiterleben." Boron wurde rasend vor Wut. "Schafft sie weg," brüllte er seine Männer an. Doch keiner von ihnen traute sich, Hand an die Prinzessin zu legen, die sie so sehr vergötterten. Der König war völlig entfesselt. Er versuchte, sie selbst wegzustoßen und als er scheiterte war er nahe daran, dennoch das Horn mit seinem Schwert abzuschlagen, ohne Sorge darüber, ob er sie vielleicht verletzte. Aber mitten in seiner Bewegung bemerkte er, was er tat. Wie mit einem Blitz der Erkenntnis, sah der König plötzlich, was aus ihm geworden war. Er realilzierte, daß er dabei war die einzige Person, die er mehr liebte als sich selbst zu zerstören. Boron warf sein Schwert zu Boden und sank auf seine Knie, voller Scham und mit von Schluchzern geschütteltem Körper.

An diesem Punkt erwachte das Einhorn und kämpfte sich mit schwachen Beinen zurück auf seine Hufe. Boron's Krieger zogen sich zurück und versteckten sich unter den Bäumen, denn auch sie schämten sich nun dessen, was sie versucht hatten zu tun. Das Einhorn richtete sich auf und ließ sich von dem Mädchen eine Weile liebkosen, bevor es sich umwandte, um dem König gegenüberzutreten. Das Geshöpf bewegte sich auf ihn zu und senkte sein Horn, bis dessen Spitze seinen Nacken berührte. "Bitte," bat Therese, "um meinetwillen, verschone meinen Vater." Das Einhorn wandte sich mit einem rätselhaften Blick in den Augen zur Prinzessin bevor es, mit ein paar eiligen Sprüngen, verschwand, wie ein silberner Blitz unterm Mond.

Ab dieser Nacht war Boron ein verwandelter Mensch. Oder besser, er kehrte zurück zu dem Menschen, der er früher war, freigiebig, ehrlich und nicht mehr mißtrauisch gegenüber Vorhaben anderer. So hatte, genau wie die Leute erwartet hatten, das Erscheinen des Einhorns das Ende der teuflischen Herrschaft angekündigt. Wie auch immer, bei diesem Ereignis starb der König nicht. Er war einfach in den guten und ehrlichen Herrscher verwandelt worden, den sein Volk erhofft hatte. Als sich das Einhorn das nächste Mal in seinem Land zeigte, sollte es ein Zeichen für Boron's Tod sein und wahrscheinlich geleitete es ihn in sein nächstes Leben. Aber zu dieser Zeit konnte sich die Liebe zum Einhorns an dieser Stelle beim Wald zu Brociliande nur mit dem Kummer über den Tod des Königs messen.

Aus "The Book of the Unicorns" von Nigel Suckling
frei ins Deutsche von Deliah

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