Hildegard von Bingen

Physika (1155 n.Chr.)

Das Einhorn (unicornus) ist eher kalt als warm(blütig); aber seine Stärke ist noch größer als seine Kälte, und es ist ein Pflanzenfresser, und in sich selbst hat es gleichsam einen Sprung, und es flieht den Menschen und fremde Tiere, auch solche, die ihm nahestehen, und man kann es nicht fangen. Es fürchtet sehr den Mann und scheut vor ihm zurück; so wie die Schlange beim ersten Sündenfall lsich vom Mann abwandte und das Weib anblickte, so meidet auch diese Tier den Mann, um vielmehr den Frauen zu folgen. Es war aber einmal ein Philosoph, der die Natur der Tiere untersuchte, dieses Tier aber durch keine Kunst zu fangen verstand und sich darüber sehr verwunderte. Dieser war eines schönen Tages wie gewöhnlich früh unterwegs, und Männer, Frauen und Mädchen begleiteten ihn. Die Mädchen aber hatten sich von den Männern getrennt und spielten allein zwischen den Blumen. Da sah ein wahrhaftes Einhorn die Mädchen und näherte sich ihnen sprunghaft, betrachtete sie einzeln, legte sich dann mit seinen Vorderfüßen zu ihnen und wurde seinerseits von ihnen freundlich betrachtet. Der Philosoph aber, dies bemerkend, widmete dem seine ganze Aufmerksamkeit, und als er wahrnahm, daß sich das Einhorn von den Mädchen bannen ließ, näherte er sich von hinten und fing es mit Hilfe der Mädchen. Das Einhorn aber war zu verwundert, nachdem es lange die Mädchen angeschaut hatte, weil sie wie die Männer aussahen, aber dennoch keine Bärte trugen; und als es bei zweien oder dreien das gleiche feststellte, war es noch verwunderter und wurde schnell gefangen, als es mit seinen in ihren Augen versunken war. Die Mädchen aber, die zu diesem Fang in der Lage sind, müssen adeliger und nicht bäurischer Herkunft sein, und sie dürfen weder zu jung noch zu alt sein, vielmehr müssen sie am Beginn des Erwachsenenalters sein, und es freut sich, wenn sie blondhaarig und kußbereit sind. Stets nur einmal im Jahr kommt es auf diesen paradiesischen Platz, wo die besten Pflanzen blühen, die es dann verspeist, und dadurch erlangt es große Kräfte, die anderen Tieren abgehen. Unter seinem Horn aber hat es ein ehernes Gefäß (aes), das gleichsam ein durchsichtiges Gebilde ist und zwar auf die Weise, daß der Mensch in ihm seine eigene Erscheinung wie in einem Spiegel erblicken kann, aber dennoch ist es an sich nicht sehr wertvoll.
Wenn man aber die Leber des Einhorns pulverisiert und dieses schmalzige (smalez) Pulver mit Eigelb mischt, so erhält man eine Salbe, die bei häufigem Gebrauch jede Art von Assatz heilt, es sei denn, daß der Kranke dem Tod übereignet ist und Gott ihn nicht heilen will. (...) Ein Gürtel aus der Haut des Einhorns schützt vor Pest und Fieber. (...) Schuhe aus Einhornleder verleihen gesunden Füße, Unterschenkel und Gelenke (gelancken).

Liber vitae meritorum (1158/1163 n.Chr.)

Der Mann bewegt sich mit den vier Zonen der Erde

  1. Alsdann sah ich, wie der Mann sich gleichsam als Ganzes mit den vier Zonen der Erde bewegte. Und siehe: An seinem linken Schenkel erschien ein Einhorn, das seine Knie leckte, und sprach:

    Das Einhorn spricht

  2. "Was geschaffen ward, wird wieder zerstört werden, und was nicht ist, wird aufgebaut. Die Sünde wird im Menschen geprüft, und das Gute wird in ihm im rechten Werke vollendet. Mit seinem guten Ruf wird es in das andere Leben zurückkehren."
    Ich achtete nur darauf, ob wohl noch weitere Laster oder vielleicht ähnliche Gestalten, wie ich sie vorher erblickt hatte, erscheinen würden; aber ich bekam jetzt nichts weiteres, das diesen Gebilde ähnlich war, zu sehen.

    Gottes Macht am Ende der Welt

  3. Und wieder hörte ich die Stimme vom Himmel zu mir sprechen:
    "Der gewaltig starke Gott, der Macht über alles hat, wird Seine Gewalt am Ende der Welt zeigen, wenn Er diese Welt zu einem neuen Wunderwerk wandeln wird."

    Gott wird die Enden der Welt erschüttern

  4. Daß du siehst, wie dieser Mann sich als Ganzes mit den vier Zonen der Erde bewegt, bedeutet, daß Gott am Ende der Welt Seine Macht mit den Kräften des Himmels zeigen wird. Er wird alle Grenzen der Welt erschüttern, und seine jede Seele wird sich zum Gericht vorbereiten.

    Christus, der Richter, prüft alles

  5. An seiner linken Hüfte erscheint ein Einhorn. Denn der in Seiner heiligen Menschheit dem Satan widerstand und der ihn mit dem Schwert der Keuschheit niederstreckte, der Sohn Gottes nämlich, Er wird in der Gestalt eines Menschen erscheinen. Das Einhorn leckt Seine Knie und nimmt damit die Richtermacht von Gott, dem Vater an. Laut ruft es nun, daß die ganze Welt im Feuer gereinigt und in eine andere Seinsweise verwandelt werde. Und so sei auch die Verkehrtheit der Menschen in Seinem Gericht zu prüfen und die Heiligkeit im guten und gerechten Tun des Menschen zur Vollendung zu führen, und dies so sehr, daß die Seelen der Gerechten nunmehr in höchster Glorie und größter Freude hinübergehen werden in die Seligkeit des ewigen Lebens.

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