Die Jagd nach dem Einhorn

Der Volksglaube erzählt uns eine Form der Einhornjagd, die zwar stellenweise variiert, aber im Grundtenor gleich bleibt. Eine Jungfrau wird als Köder für das Einhorn in der Nähe von dessen Versteck unter einen Baum gesetzt. Durch die Reinheit und Keuschheit des Mädchens wird das Tier angelockt und bettet seinen Kopf in dessen Schoß, wo es alsbald einschläft. Nun ist die Gelegenheit der Jäger gekommen, daß Einhorn gefangen zu nehmen und ihm sein Horn abzuschneiden. Eine bekannte Version ist auch, daß das Einhorn gefesselt und ins Schloß gebracht wird. Wahlweise kann dies auch durch die Jungfrau selbst passieren. Am Ende solcher Jagden steht aber immer der unweigerliche Tod des Einhorns.

Im asiatischen und indischen Raum allerdings, wo das Einhorn seinen Ursprung hat, wird niemals von einer Tötung des heiligen Tieres gesprochen. Es gibt Quellen, in denen das Einhorn durch eine junge Frau einen Palast geführt wird. Jedoch ist diese Frau nicht als Jungfrau geschildert, es sind keine Jäger anwesend und das Einhorn wird nicht getötet. Um den Zusammenhang zwischen den Versionen festzustellen, möchte ich hier die Stellung der Jungfrau zum Einhorn genauer darstellen.

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Warum genau das Einhorn gerade auf eine Jungfrau so seltsam reagieren soll, kann nicht schlüssig erklärt werden. Einige glauben, daß die feuchte Luft, die eine reine Jungfrau umgibt, dem hitzigen Einhorn Kühlung bieten. Andere sind davon überzeugt, daß die von einer Jungfrau gespielte Musik oder einfach nur deren Liebreiz das Einhorn anlocken.

Das Einhorn hat erst mit seinem Eingang in die kirchliche Mythologie seine endgültige Verbindung mit der Jungfrau gefunden. Zwar wurden vorher schon die Reaktionen des Einhorns auf eine Jungfrau geschildert, was aber noch nicht so eingebürgert war. Oft wird behauptet, daß Einhorn sei auch Sinnbild für Maria, der bekanntesten kirchlichen Jungfrau, und somit Symbol für Reinheit, Keuschheit und Jungfräulichkeit. Oft ist dieser versuch, die Darstellung der beiden zu deuten, jedoch falsch. Hauptsächlich ist das Einhorn nämlich ein Zeichen für Jesus und in Verbindung mit der Jungfrau Maria ist durch das Fabelwesen die unbefleckte Empfängnis des Messias dargestellt und keinesfalls nur die Identifizierung der jungen Frau durch das Einhorn als Jungfrau Maria gemeint. Zwar beinhaltet die Symbolik diesen Gedanken, aber sie geht inhaltlich doch weiter, als die meisten annehmen.

Durch diese falsche Interpretation und den Überlieferungen aus dem asiatischen Raum, kam der Gedanke, das Einhorn in direkte Verbindung zu der Jungfräulichkeit einer Frau zu setzen. Man ging sogar so weit, daß man glaubte, das Einhorn sei ein guter Test vor der Hochzeit. Wurde ein Einhorn in Gegenwart der Braut sanftmütig war an ihrer guten Kinderstube nicht mehr zu zweifeln. War sie keine Jungfrau, so hatte sich das Problem selbst gelöst, denn es gibt Bilder, auf denen ein Einhorn eine Frau mit seinem Horn durchbohrt, weil diese keine Unbeflecktheit vorweisen konnt. In beiden Fällen hatte bei den damaligen Einstellungen der Bräutigam also nur gewonnen.

Die Kenntnis von diesen seltsamen Anwandlungen des Tieres machten sich die Menschen alsbald zunutze. Das Horn des Wesens war seit jeher als Wundermittel gegen Krankheiten wie Epilepsie und Gifte aller Art bekannt. Da es ja nur durch eine Jungfrau zu zähmen war und ansonsten sein Revier gnadenlos gegen alles verteidigte, was ihm zu nahe kam, wurden die Mädchen schon bald als Köder eingesetzt. Es gibt unterschiedliche Erzählungen, wie die Jungfrau dem Einhorn gegenübertrat. In einigen ist sie völlig nackt, in anderen entblöst sie ihre Brust und bietet sie dem Einhorn dar, das sich daran lehnt und ausruht, in wieder anderen ist sie völlig begleidet und das Einhorn legt seinen Kopf nur auf ihren Schoß. Oft wurden die Frauen unter Bäume gesetzt, um dort auf das Tier zu warten.

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Zu Beginn stand dem Einhorn also nur das Mädchen gegenüber, weitere Personen waren nicht an der "Einhornjagd" beteiligt. Erst einige Zeit später wurden Bilder erstellt, auf denen der Jungfrau Fänger zugeteilt wurden. Diese banden das Einhorn jedoch nurund trieben es zum Palast ihres Herrschers. Die Anwesenheit des mächtigen Tieres war Schutz genug und man tötete es nicht. Einige Quellen besagen aber auch, das Einhörner in Gefangenschaft nicht lange überlebten.

Die Fänger auf diesen Bildern wurden in späterer Zeit als richtige Jäger ausgelegt. Man ging davon aus, daß diese das Einhorn töteten, sobald es im Schoß der Jungfrau eingeschlafen war. So konnten sie gefahrlos das wertvolle Horn abtrennen und ihrem Herrscher überbringen, der daraus wertvolle Kelche und Pulver herstellen ließ. Hier schließt sich der Kreis der vielen unterschiedlichen Jagdmethoden.

Allerdings wird auch geschrieben, daß das Einhorn sein Horn abwirft, sobald es in zu arge Bedrängnis gerät. Dies dient wohl vor allem zum Schutz vor solchen Jägern, die es nur auf seinen Kopfschmuck abgesehen haben. Ebenso begehrt wie das Horn war ein anderes Kleinod, das man direkt unter dem Horn auf der Stirn des Tieres finden konnte. Der Karfunkelstein, der dort seinen Platz hat, war ebenso begehrt wie das Horn, sprach man ihm doch ähnliche Wunderkräfte zu und war mit seiner blutroten Farbe doch gleichzeitig noch hübsch anzusehen. Dieser Stein war wahrlich schwerer zu erbeuten als das Horn, denn er saß fest an seinem Platz.

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Geschichten zur Einhornjagd findest du auch bei den Kurzgeschichten. Interessant sind wohl vor allem:
Die Jagd bei Broceliande
Die Jungfrau und das Einhorn
Der Eremit "Einhorn" aus Indien

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